Hausschneiderin

Dieses Konzept hat mich schon immer fasziniert: Hausschneiderin oder auch Hausnäherin. Das sind beziehungsweise waren Schneiderinnen (ja, ich habe nur von Frauen gehört, die einer solchen Tätigkeit nachgehen), die im Hause anderer für den jeweiligen Haushalt und für die dazugehörige Familie nähen. Nein, falsch – nähten (Präteritum) sollte ich sagen. Dazu gehörten Änderungsarbeiten und Reparaturen an Kleidungsstücken genauso wie Vorhänge und was weiß der Kuckuck.

Das heißt, morgens, etwa an einem Mittwoch, klingelte die Hausschneiderin an einem in meiner Vorstellung großen Haus mit Messingklingel, wurde eingelassen, stieg die herrschaftlichen breiten Treppen hinauf und verbrachte den Tag mit Näharbeiten vor Ort, also direkt bei der Klientel – mit allem Drum und Dran. Abends, wenn die Kundenkinder in die eigens für sie angepassten Sachen passten (ob sie darüber begeistert waren, kann ich leider nicht beurteilen), dem alten Nachthemd von Tante Heide ein neues Leben geschenkt worden war und der Vorhang gekonnt mit neuer Raffung am Fenster hing, machte sich die Hausschneiderin wieder auf den Weg.

Dieser Begriff der Hausschneiderin ist nicht mehr in Mode, weil es diesen Anwendungsfall nicht mehr zu geben scheint, zumindest nicht in Deutschland. Geläufig ist mir der Begriff vor allem von Kaffeetafeln mit älteren Damen, die selbst oder deren inzwischen verstorbene Angehörige (Mütter oder Tanten oder deren Freundinnen) als Hausnäherinnen arbeiteten, z.B. zur Zeit des 2. Weltkriegs, um sich und ihre Familie zu ernähren. Bevor es einschlägige Kleidungsgeschäfte oder gar Online-Shops gab, die heute selbstverständlich sind.

Da war nicht nur individueller Modegeschmack gefragt, sondern auch Geschicklichkeit und Einfallsreichtum – zum Beispiel wenn Kleidung komplett umgenäht werden musste, weil es nichts zu kaufen gab. Oder wenn es um Brautkleider oder gar fipselige Aussteuer-Gegenstände für die jüngste Tochter ging. Viel Spaß! Für diesen Job brauchten die Frauen vermutlich auch: gute Nerven, ein offenes Ohr, Menschenkenntnis, fortgeschrittene Multi-Tasking-Skills, Verhandlungsgeschick und Diskretion. Denn das waren zum Teil langfristige Geschäftsbeziehungen mit Familienanschluss, die die Hausschneiderinnen eingingen. Viel verdient haben sie höchstwahrscheinlich nicht. Aber zum Leben scheint es durchaus gereicht zu haben. Ganz zu schweigen von dem Nervenkitzel (Brautkleider mit Änderungen in der letzten Minute!) und dem Unterhaltungswert.

Ein schönes Beispiel für die Erinnerung einer Hausnäherin findet man in einem mittlerweile historischen Eintrag der Schwäbischen Zeitung (von 2009):
https://www.schwaebische.de/landkreis/bodenseekreis/meersburg_artikel,-die-n%C3%A4herin-besticht-durch-ihre-fitness-_arid,3572596.html