Jauchzet, frohlocket!

Letztens, als ich in einer recht vollen Straßenbahn auf dem Weg nach Hause auf dem Gang stand, fiel mein Blick wieder auf einen jener vertrauten Monitore, welche die Fahrgäste sehr treu mit Nachrichten und Quizfragen von Sachsen Fernsehen versorgen. Und ich las: Die Bauern frohlockten. Sofort holte ich ungläubig meine Brille hervor und tatsächlich: Ja, sie frohlockten! Genauer gesagt: Sachsens Bauern frohlockten „über optimale Bedingungen, um ihre Felder fürs nächste Jahr zu bestellen“. Das hat mich so erfreut! Und überrascht. Erstens, dass Bauern wieder einen Grund haben, sich zu freuen. Und zweitens, weil die Menschen heute viel zu selten „frohlocken“. Vor meinem inneren Auge sah ich sogleich eine pastorale Landschaft mit historisch gekleideten, erstaunt jubelnden Menschen vor mir. Das Wort frohlocken kenne ich hauptsächlich nur noch aus dem Weihnachtsoratorium:

Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,
rühmet, was heute der Höchste getan!
Lasset das Zagen, verbannet die Klage,
stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!

Weihnachtsoratorium (https://www.bachfestleipzig.de/de/bachfest/text-des-weihnachtsoratorium)

In der (wie sich herausstellte, dpa-)Meldung ging es um handfeste Landwirtschaft unserer jetztigen Zeit:

„Es deute sich ein goldener Herbst an, sagte Bauernpräsident Torsten Krawczyk der Deutschen Presse-Agentur. Der Raps sei schon in der Erde, als nächstes folge die Wintergerste und später der Winterweizen – die flächenmäßig wichtigste Feldfrucht in Sachsen.“

https://www.sachsen-fernsehen.de/nach-der-getreideernte-sachsens-bauern-bestellen-felder-fuer-2024-1465047/

Ich finde, es ist eine wahrlich passende Wortwahl für eine Meldung kurz vor dem Sonntag, der in der evangelischen Kirche als Erntedanksonntag bekannt ist (der erste Sonntag im Oktober).

Frohlocken ist definitiv ein notleidendes Wort unserer Zeit, finde ich. Gerade im Nachrichtenkontext lokaler und globaler Krisen rechne ich nicht damit, es zu lesen – umso größer dann die Überraschung. Was für eine wunderbare Meldung!

Ebenso überrascht war ich, als ich im Duden meines Vertrauens nachschlug. Dort steht nämlich, dass frohlocken es auch etwas mit Schadenfreude zu tun hat, was mir bisher völlig entgangen war:

[spätmhd. vrolocken 2. Bestandteil wohl zu löcken] (geh.): 1. lebhafte Schadenfreude empfinden [u. laut zum Ausdruck bringen]; triumphieren; du hast da zu früh frohlockt; heimlich frohlockte er über den Mißerfolg seines Kollegen. 2. vor Freude jubeln; jauchzen: sie frohlockte über das gute Ergebnis.
3. (geh. veraltet) lobsingen: dem Herrn f.

Duden, Deutsches Universalwörterbuch A-Z, 2. Ausgabe, 1989

Wenn man nun im Duden löcken nachschaut, findet man:

[mhd. lecken = mit den Füßen ausschlagen]: meist in der Wendung wider/gegen den Stachel l. (geh.; etw., was als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird, nicht hinnehmen u. sich dem widersetzen; nach dem Ochsen, der gegen den Stachelstock des Treibers ausschlägt; nach Apg. 9,5 u. 26,14)

Duden, Deutsches Universalwörterbuch A-Z, 2. Ausgabe, 1989
Hinweis: [mhd.] steht dabei für mittelhochdeutsch; (geh.) für gehoben und Apg. für Apostelgeschichte
(Den Ausdruck ‚gegen den Stachel löcken‘ mochte ich übrigens noch nie, ich gebe ihn hier nur der Vollständigkeit halber wieder.)

Also, eigentlich müsste bzw. könnte man beim Frohlocken auch sachgemäß mit den Füßen ausschlagen. Nun ja. Wahrscheinlich sollte ich das erst einmal unauffällig im Keller üben, bevor ich zu einem geeigneten Anlass zur Tat schreite, um — dann ad hoc natürlich — mein Umfeld füglich zu überraschen.

Auf jeden Fall möchte ich mir ein Beispiel an der dpa nehmen und frohlocken beherzt an geeignete Stellen in meine Texte schleusen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Die Verlockung ist groß. Anlässe werden sich finden.

Geistige Getränke und Retourbillets

Ob Sherlock Holmes, Dracula oder andere Geschichten, deren Handlung in den 1890er Jahren in London spielt: Ein kleiner treuer Reiseführer aus der damaligen Zeit (mit Karte!) kann nie als Begleitliteratur schaden, wenn man in Gedanken an Ort und Stelle „reisen“ möchte. Ich habe einen, der 1896 für eine deutsche Leser- und Besucherschaft verfasst wurde und beispielsweise deutsche Buchhandlungen, Apotheken und sogar Musikalienhandlungen aufführt. So war ein Ableger von Breitkopf & Härtel in der Great Marlborough Street zu finden und einer von Schott & Söhne in der Regent Street. Erstaunlich! Immer wieder ziehe ich das Bändchen zurate, wenn ich mich im viktorianischen London „zurechtfinden“ möchte.

Bereits damals wurden zum Beispiel sieben vegetarische Restaurants aufgeführt, und vielleicht war das auch nur eine Auswahl:

Vegetarianer-Restaurants.

Keine geistigen Getränke, kein Fleisch; Pflanzenkost gut und billig, keine Trinkgelder.

St. Pauls Churchyard 61.
Ludgate Circus 1.
St. Martins Lane W.C. (The Orange Grove).
Tottenham Court Road 185 (The Ideal).
Oxford Street 23 (The Alpha).
Rathbone Place 13, Oxford Str. (The Wheatsheaf).
Strand 303 (Queen Victoria).

London und Umgebung, Achte Auflage. Verlag von Albert Goldschmidt, Berlin, 1896, Seite 39

In den „Vegetarianer-Restaurants“ wurden keine alkoholischen Getränke verkauft. Wobei – was schreibe ich: „Geistige Getränke“ klingt so viel schöner. Ich denke gleich an Rotwein und Sonnette, wobei sich der „geistige“ Aspekt hier freilich nur auf den Alkohol im Getränk bezieht, nicht auf die Wirkung oder den geistig-musischen Ausgangzsustand jener, die solche Getränke zu sich nehmen. In „Spiritus“ (Latein: u.a. Lufthauch, Wind, Seufzer, Dunst, Seele, Geist) ist die Bedeutung heute noch enthalten.

Im „Kluge“ steht zu Spiritus:

„(vergällter) Alkohol, Weingeist“, erw. fach. (15. Jh.). Entlehnt aus l. spiritus „Hauch“, zu l. spirare „blasen, wehen“. In der Sprache der Alchimisten wurde mit diesem Wort die „wesenhafte Flüssigkeit“ von Körpern bezeichnet, die sie durch Destillation gewannen. Dann speziell auf das Wesenhafte von alkoholischen Flüssigkeiten bezogen (–> Spirituosen).

Quelle: Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin, New York, Walter de Gruyter, 2002

Von Berlin aus hätte ich damals über Vissingen, Ostende, Calais oder Hoek-Harwich nach London reisen können, wie ich lese. Eine Hin- und Rückfahrkarte („Retourbillet“) für letztere Route kostete für die 1. Klasse damals 83 Mark und war 30 Tage gültig. Retourbillets! Auch sind die Farben für Omnibus-Linien und Pferdebahnen (Tramways) aufgeführt.

Blick in das Büchlein, das mir vor vielen Jahren eine liebe Englischlehrerin schenkte, weil sie meine Vorliebe für Großbritannien und die englische Sprache kannte.

Wenn ich das nächste Mal nach London reise, möchte ich wieder eine Dampfschiffpartie unternehmen, wie im Reisführer vorgeschlagen. Viele, will heißen wahrscheinlich die meisten der Museen und Ziele gibt es ja auch heute. Man kann sich also inspirieren lassen. Für mich gehört ein Pub-Besuch immer mit dazu. Doch was lese ich dazu in meinem Reiseführer?! What?!

„Die englischen Bierlokale, ‚Public Houses‘ genannt, bieten einen ungemütlichen Aufenthalt mit sehr gemischter Gesellschaft und entsprechen in keiner Weise dem deutschen Geschmack. Dagegen haben die deutschen Bier-Importeure in den letzten Jahren eine grössere Zahl eleganter Restaurants nach deutscher Art eingerichtet, deren Aufzählung folgt:..“

London und Umgebung, Achte Auflage. Verlag von Albert Goldschmidt, Berlin, 1896, Seite 37

Oha. Wenn ich an diese Stelle komme, merke ich, dass es dann doch an der Zeit ist, das Büchlein wieder zu schließen und an seine Stelle ins Regal zu stellen.

dergestalt

Ein wunderbares Adverb des gehobenen Sprachgebrauchs, das meines Erachtens viel zu kurz kommt, ist dergestalt (Hauptbetonung auf der ersten Silbe).

Es bedeutet laut Duden:

derart, so, auf diese Weise

Synonyme: derart, dermaßen, in dem/in solchem Maße, in der/in solcher Art
Herkunft: erstarrter adverbialer Genitiv

https://www.duden.de/rechtschreibung/dergestalt

Meist wird es mit nachfolgendem Nebensatz gebraucht – Beispiel:

Das Kettenkarrussel drehte sich dergestalt, dass Alles darauf vor Aufregung kreischte und mein Freund sagte: „Ach lass uns noch einmal zurückgehen, es ist doch so schön“.

Natürlich gibt es genug andere adäquate Ausdrucksweisen, jedoch gefällt mir dergestalt, weil es eine gewisse dramaturgische Form in den Satz bringt. Es stellt durch seine Betonung eine Art Zäsur her, welche die Aufmerksamkeit ganz natürlich auf das lenkt, was nach ihm kommt.

Es kann aber auch gleich am Satzanfang stehen:

Dergestalt informiert, konnte sich Sybille in ihre Hausarbeit stürzen.

selbdritt

Selbdritt ist ein Wort, das heute meines Wissens nur noch in der Sakral-Kunst verwendet wird, nicht mehr im Alltag. Ich selbst habe leider keine Erinnerung daran, dass meine Großeltern oder andere Verwandte dieses Wort jemals benutzt hätten.

Laut dem etymologischen Kluge-Wörterbuch (Walter de Gruyter, 2002) handelt es sich um ein Pronomen (Pron.), dass „zu dritt“ meint, wobei man sich selbst als letzter mitzählt. Es ist nah verwandt mit dem mir bisher noch unbekannteren

selbander Pron „zu zweit“ per. arch. (13. Jh.). Gemeint ist „so, daß ich selbst der andere = der zweite bin“. Ebenso selbdritt „zu dritt“ = er/sie selbst als dritte(r).

In meinem Duden von 1905 steht – ohne weitere Erklärung, derer es damals offenkundig noch nicht bedurfte:

selb…(dritt, fünft).

In der christlichen Ikonographie ist „Anna Selbdritt“ eine Bezeichnung für Gemälde oder figürliche Darstellungen, auf denen Jesus mit seiner Mutter Maria sowie deren Mutter, Anna (bzw. Heilige Anna), abgebildet ist – also die drei Generationen zu dritt. Oft hält die Heilige Anna, also die Großmutter von Jesus, die etwas größere Maria in der einen und den etwas kleineren Jesus in der anderen Hand. Der Größenunterschied diente eine Zeit lang in der Kunst dazu, den Altersunterschied zwischen Maria und Jesus zu verdeutlichen. Eine solche figürliche Darstellung findet sich an einem Altar, der seit 2019 wieder im Naumburger Dom zu besichtigen ist. Berühmter als diese ist sicher das Anna-Selbdritt-Gemälde von Leonardo da Vinci (Anna Metterza) im Louvre.

Jetzt fehlt mir „selbander“ oder „selbdritt“ nicht wirklich im Alltag. Was mir an diesen Formulierungen jedoch gefällt ist, dass es sich anhört, als würde man noch einmal kurz in die Runde zählen und sich selbst aus Höflichkeit als letztes mitzählen.

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich „selbdritt“ das erste Mal vor Jahren im Gedicht „Zähle die Mandeln“ von Paul Celan gelesen. Auf Lyrikline kann man auch eine Aufzeichnung mit Celan selber hören.

Paul Celan: Zähle die Mandeln
(www.lyrikline.org)

Beitrag über den Altar im Naumburger Dom mit Bild
(meine-kirchenzeitung.de von 2019)

Erläuterung über das Gemälde Anna Metterza im Louvre
(www.art-inspector.de)

Kaleidoskop

Neuerdings schaue ich oft in die Sterne. Aber nicht durch ein Teleskop am kalten Nachthimmel, sondern durch ein kleines Kaleidoskop. Meine Mutter schenkte es mir letztens (sie dachte, es wäre sowieso meins gewesen, aber ich konnte mich nicht erinnern). Erst vor einigen Wochen hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen und mich gefragt, wo denn mein früheres, etwas größeres Kaleidoskop wohl abgeblieben wäre, dann fiel es mir ein: Ich hatte es weggegeben. Und dann dieses kleine Geschenk, völlig überraschend!

Es besteht aus zwei Röhrchen, die miteinander verbunden sind, das eine führt durch das andere. Das eine Röhrchen (das die Spiegel enthält) ist mit Glitzerpapier ausgekleidet. Das andere enthält kleine glänzende Sterne, Herzchen und helle Körnchen. Wenn man es dreht, zeigen sich immer neue Farben und glitzernde Muster und es hört praktisch nicht auf! Stunden kann man damit verbringen. Und staunen, sich ablenken, den Rechner mal runterfahren, sich freuen über die Kleinigkeiten des Lebens. So richtig weiß ich auch nicht, warum es mir so gefällt.

Das Wort Kaleidoskop kommt aus dem Griechischen, wie im etymologischen Kluge-Wörterbuch (Walter de Gruyter, 2002) nachzulesen ist:

Neubildung in England zu gr. kalós „schön“, gr. eidos „Bild, Gestalt“ (zu gr. idein „sehen“) und gr. skopein „schauen“ in Analogie zu Mikroskop. Somit also ein „Gerät“ zum Betrachten von schönen Bildern“ (entstanden 1815).

In meinem Duden von 1905 steht das etwas knapper:

(gr.) „Schönbildseher“, optisches Spielwerk || kaleidoskopisch; in buntem Wechsel, bunt

Duden. Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bibliographisches Institut. Leipzig und Wien, 1905

Ich habe also einen Schönbildseher geschenkt bekommen oder noch besser: Ich hatte ihn schon und wusste es nicht. Und wahrlich, wie gut kann ich ihn gebrauchen! Er ist platzsparend, spontan einsetzbar, kostengünstig (verbraucht keinen Strom und braucht keine Ersatzpatronen oder so etwas) und zeigt mir immer neue, oft glitzernde, sich ständig wandelnde Motive, wobei man die Geschwindigkeit ja selbst beeinflussen kann. Durch die Symmetrie der Darstellung strahlen die Muster zudem eine gewisse Vollkommenheit aus, zumindest wirkt es so auf mich.

Erfunden hat das Kaleidoskop der schottische Physiker (und Theologe) Sir David Brewester 1815 und ließ es 1817 patentieren. Vorläufer-„Technologien“ mit spiegelnden Oberflächen reichen wohl viel weiter zurück. Auf der Website eines Herstellers (jedoch nicht meines Kaleidoskops) steht folgendes:

Die Encyclopaedia Britannica verzeichnete in der Ergänzung von 1824 unter dem Eintrag ‘Kaleidoskop’: „Es wurde schnell beliebt und die Sensation, die es bei Leuten jeden Standes hervorrief, war überraschend. Kaleidoskope wurden in enormen Mengen hergestellt und ebenso rasch verkauft, wie sie produziert werden konnten.“

https://www.caleidoscopio-aleph.com/de/content/6-ursprung-und-geschichte

Das kann ich mir gut vorstellen, denn auch bei uns war das kleine Gerät eine Sensation am Kaffeetisch. Es erklangen Begeisterungsrufe im Wechsel mit Seufzern der Faszination – so überraschend lebensfroh wirkten die Muster und ihre Wandlungen auf das unvorbereitete Pandemie-Herbst-Gemüt. Ich wollte es kaum aus der Hand legen. Ich habe es gleich per Video aufgenommen, aber die Aufnahmen kommen nicht an den Effekt des Direktschauens heran.

Der Begriff Kaleidoskop wird heute wahrscheinlich jedoch meistens im übertragenen Sinne gebraucht, als bunte Ansammlung von etwas (siehe 2. Bedeutung im aktuellen Duden, online):

1. optisches, in seiner Form an ein Fernrohr erinnerndes Spielzeug, bei dem durch mehrfache Spiegelung von bunten Glassteinchen im Innern, die sich durch Drehen jeweils anders zusammenfügen, wechselnde geometrische Bilder und Muster erscheinen

2. lebendig-bunte [Bilder]folge; buntes Allerlei, bunter Wechsel bei etwas

BEISPIEL:
– ein [buntes] Kaleidoskop von Stimmen, Farben, Eindrücken

Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Kaleidoskop

Diese Verwendung ist meines Erachtens jedoch etwas schwach. Es schwingt etwas Beliebiges darin mit, wie etwas willkürlich Zusammengewürfeltes. Das finde ich schade. Zwar sind auch die Partikel im Kaleidoskop etwas im Moment „Zusammengewürfeltes“; dennoch geht von der echten Kaleidskoperfahrung eine größere Faszination – ja Genialität – aus, will mir scheinen. Es ist wirklich eine tolle Erfindung. Weggeben werde ich dieses bestimmt nicht.

Weitere Hinweise:

Auf Google Books ist das Original-Werk von Sir David Brewster über seine Forschung zum Kaleidoskop zu finden: The Kaleidoscope, Its History, Theory and Construction with Its Application to the Fine and Useful Arts. London. John Murry, 1858. (Diese Info habe ich von „experimentis – Physik für alle“ auf https://experimentis-shop.de/kaleidoskop-mit-objektkammer-detail-345.html).

inkommodieren

Inkommodieren: Dieses Wort der auserlesenen Höflichkeit ist noch nicht ganz ausgestorben – wohl aber notleidend, so selten wird es (meines Wissens) heute gebraucht, auch wenn es vielen Menschen des deutschen Sprachraums noch bekannt sein dürfte.

Nein, es heißt nicht etwa „sich aus Versehen in eine Kommode einschließen“. Nun gut, da müsste die Kommode schon groß sein. Vielmehr steht dieser bildungssprachliche, aus dem Französisch (bzw. Latein) kommende Ausdruck für „sich oder jemand anderem Umstände machen, Ungelegenheiten bereiten“. Wie zum Beispiel in „Dürfte ich Sie kurz mit einer Frage inkommodieren?“ Man kann es auch reflexiv gebrauchen, zum Beispiel in: „Bitte inkommodieren Sie sich nicht meinetwegen!“ Zwar ist „Bitte machen Sie sich meinetwegen keine Umstände“ auch recht nett, entbehrt aber des gewissen sprachlichen Schliffs und der Entschlossenheit des Ausdrucks, welche „inkommodieren“ mit sich bringt. Ja, die Person, die solches sagt, meint es ernst, will man meinen.

Noch weniger gebräuchlich heute: Inkommodität, also die „Unbequemlichkeit, Lästigkeit einer Sache“ (Duden, 1989).

Ebenfalls verwandt: kommod, was so viel bedeutet wie „angemessen, zweckmäßig, bequem“. Am häufigsten habe ich das vor einer Weile noch in Österreich gehört. Ja, die Österreicher. Ob sie zu Corona-Zeiten noch „Küss die Hand“ sagen? Mmh. Aber das war ja in den meisten Fällen sowieso nur im Bilde gesprochen. Zu lange war ich nicht mehr da. Wie gern säße ich jetzt in einem Wiener Kaffeehaus und hörte mich sagen: „Ein Soda-Zitron käme mir ganz kommod. Und bitte geben Sie mir noch einen Maria Theresia dazu!“

Analog zu Inkommodität gibt es auch die Kommodität: im Sinne von Bequemlichkeit.

Die Kommode – nun doch das Möbelstück – so belehrt mich mein treuer Duden von 1989, ist eine substantivierte Form von kommod und bedeutet daher eigentlich so viel wie: „bequem(e Truhe)“. Wie ein Möbelstück bequem sein kann, außer wenn es sich um ein Sitz- oder Schlafmöbel handelt, will sich mir noch nicht so ganz erschließen. Vielleicht besteht die Bequemlichkeit in den Schubladen, die einen schnellen Zugriff auf die darin befindlichen Dinge ermöglichen (was voraussetzt, dass diese auch tatsächlich und halbwegs geordnet darin liegen).

Vor einiger Zeit habe ich mir spontan eine historisch aufgearbeitete Kommode gekauft. Sie sieht schön aus. Leider musste ich zuhause feststellen, dass einige Schubladen dann doch nicht mehr so reibungsfrei aufgehen. Auf Dauer ist das kann doch nicht so kommod wie ich erst dachte. Aber das lässt sich ja ändern.

Ein Kömmödchen mit niedlichen Schublädchen – Beispielbild.
Foto: Pixabay / Pexels

Lichtspiel

„Ach, lass uns doch mal wieder ein Lichtspiel besuchen.“ Wie lange hat das keiner zu mir gesagt. Sofort habe ich zuckende Schwarz-Weiß-Bilder eines Stummfilms vor Augen, wahrscheinlich sitzt ein Orchester gleich vor der Bühne, die Menge tobt ob der nach heutigen Standards völlig übertriebenen Gestik der Darsteller bei der Vorführung recht alberner Sketche. Meine Freundin Gerda muss sich Luft zufächern, so lustig ist der Film. Sie trägt ein sehr schickes 20er-Jahre-Kleid. So könnte es sich zugetragen haben, wenn ich vor 100 Jahren gelebt hätte und ein Lichtspieltheater oder Lichtspielhaus besucht hätte und eine Freundin gehabt hätte, die Gerda hieß.

Die Bezeichnung Lichtspiel ist sicher auf die in seiner Entstehungszeit neuartige Form der Vermittlung eines Schauspiels durch die Licht-Projektion bewegter Bilder zurückzuführen. Daher auch die Bezeichnung Lichtspieltheater für den Ort, wo Lichtspiele gezeigt wurden (oder auch Lichtspielhaus). Es war ein Theater, wo die Schauspieler eben nicht leibhaftig auf der Bühne standen, sondern an die Wand projeziert wurden.

Der heutige Begriff Kino ist laut dem etymologischen Kluge-Wörterbuch auf Kin-(emat)-o-graph zurückzuführen. Damit war zunächst ein „Apparat zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder“ gemeint, entlehnt aus dem Französischen cinématographe. Darin enthalten sind das griechische kinema (-atos) für Bewegung sowie -graph von dem Verb graphein, was schreiben bedeutet (vgl. Kluge, 2002). Also ein Bewegungsaufschreiber, jedoch nicht im Sinne heutiger Fitness-Apps. Später wurde der Begriff für die Apparatur gleichbedeutend mit dem Ort, wo diese zum Einsatz kam.

Einige Filmrezensenten verwenden Lichtspiel noch heute vereinzelt als Synonym, wenn sie nicht dauernd Film oder Streifen sagen wollen, was die treu Verbundenen der notleidenden Wörter natürlich erfreuen dürfte.

Für mich klingt Lichtspiel sofort nach guter Laune und einem wohlschmeckenden Cocktail im Anschluss, nicht zum Beipiel nach dem düsteren und sehr dramatischen Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ (ausgesprochen: patjomkin) von Sergej Eisenstein aus dem Jahre 1925, der die Zuschauer dank neuartiger dramaturgischer und schnitttechnischer Kniffe damals in Angst und Schrecken versetzte. Auch nicht nach heutigen Kassenschlagern (man könnte auch Blockbuster sagen) mit allen möglichen Spezialeffekten.

Aber die Lichtspielhäuser bleiben derzeit pestilenzbedingt geschlossen und viele Freunde des dramaturgisch durchdachten Bewegtbilds wenden sich Streamingdiensten zu, derer es inzwischen recht viele gibt. Mmh. Wie könnte man diese nach alter Tradition nennen? Vielleicht Lichtspiellieferanten, Lichtspielversorger — oder, wenn man es wieder französisch haben möchte — Lichtspielabonnementdienste? Vielleicht wäre das doch auch was für mich. Internet hab ich. Gin habe ich auch in mittlerer Bandbreite. Jetzt muss ich nur noch Gerda finden. (Wahrscheinlich dann doch eher nach dem Lockdown. Ach Mensch. Man könnte auch confinement auf französisch sagen, wie beispielsweise die französische Tageszeitung Le Figaro. Klingt irgendwie frischer, ändert aber nicht wirklich etwas.)

Pestilenz

Wir leben in Shakespeare’schen Zeiten.

Wer hätte gedacht, dass man jemals inständig gebeten würde, einfach nur zuhause zu bleiben? Wann hätte ich mir träumen lassen, dass faul auf der Couch zu sitzen jemals eine überaus noble Tätigkeit sein würde, weil man damit indirekt Leben retten kann (das eigene oder auch das anderer Menschen)?

Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals in einer Zeit leben würde, in der eine Pestilenz globalen Ausmaßes umhergeht, die es erfordert, dass die Menschen — wer immer kann — das Haus nicht verlassen, Geschäfte, Restaurants, Bars bei bestem Wetter geschlossen bleiben, Unterricht länderübergreifend ausfällt, Kitas ebenfalls zu bleiben. Dass Gottesdienste über Wochen ausfallen oder ohne Kirchgänger stattfinden, und das auch noch zu Ostern — dem wichtigsten Fest der Christenheit!
Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ich jemals sehen würde, wie der Papst in Rom zu einer Messe praktisch fast allein auf dem Petersplatz steht [1]. Nie.

Nie hätte ich gedacht, dass ich Kühllaster an einem Ausgang eines Krankenhauses in New York sehen würde, weil kein Platz mehr für die Verstorbenen ist und Mediziner*innen [2] möglichen Ärger auf sich nehmen, um der Öffentlichkeit die Dramatik der Situation zu verdeutlichen, weil sie nur schwer zu verdeutlichen ist.

Und noch so vieles mehr.

Pestilenz, das war doch einmal, damals, als man noch so anders sprach und vergleichsweise wenig über Medizin wusste. Als beispielsweise der Decamerone (Boccaccio) entstand. Oder King Lear (Shakespeare). Ach, wunderbare Werke der Literatur. Aber in welchem Kontext!

Wie schnell sich doch alles ändern kann.

Pestilenz war nie ein Wort, dass ich geplant hatte, als „notleidendes“ Wort vorzustellen. Zum einen: Man hat nicht so wirklich Sympathie dafür. Zum anderen: Dieser Tage leidet es nicht wirklich Not, will heißen: der Inbegriff der „Pestilenz“ der Gegenwart, Covid-19 (verursacht durch das Virus SARS-CoV-19). Aber viele Menschen leiden Not, haben Bange um Angehörige, Kolleg*innen oder sich selbst und blicken mit großer Sorge in die Zukunft.

Deshalb fällt es mir schwer, erbauliche oder gar vergnügliche Dinge zu schreiben, auch wenn ich mir gern im Internet die kreativen und teils witzigen Sachen anschaue, die Leute von zuhause aus tun, damit ihnen nicht die Decke auf den Kopf fällt. Ja, sogar ich werde jetzt heimwerkerlich tätig, um aus meinem kleinen Esstisch eine Art Küchenanrichte zu bauen. (Die Betonung hier liegt auf eine Art.)

Ich meditiere, halte Andachten, mache mir Kaffee. Und Kaffee, und Kaffee. Und entkoffeinierten Kaffee. Tausche mich mit Freunden und Kollegen aus. Mache eine Seelsorger(fern)ausbildung, die ich sowieso schon machen wollte und die auch eine Weile dauern wird. Nur „herumzusitzen“ fällt mir zum Teil schwer — auch wenn es sicher im Moment (und vielleicht auch öfter als man oft denkt) das Beste ist.

______________

[1]: Pope’s blessing in empty St Peter’s Square watched by 11m on TV (The Guardian) — die Aufnahme entstand schon vor Ostern.

[2]: Dr. Colleen Smith, Emergency Room Doctor, Elmhurst Hospital
via New York Times
(New York Times)

Famos

‚Famos‘ gehört eindeutig zu den notleidenden Wörtern der deutschen Sprache. Bedeutung: berühmt, berüchtigt; umgangssprachlich aber vor allem: fabelhaft, ausgezeichnet, großartig, toll.

Ich erinnere mich noch gut (wenn auch weichgezeichnet in den Kodakfarben meiner Kindheitserinnerungen) an ältere Leute, die bei relativ harmlosen Dingen beim gemeinsamen Kaffeetrinken plötzlich jäh ausriefen: „Das ist ja famos!“. Ich gestehe: Das fehlt mir. Ich meine die Entschlossenheit zur unterhaltsamen Übertreibung völlig harmloser Dinge im Zuge einer gepflegten Unterhaltung. Gewissermaßen aus Höflichkeit. Diese Art von harmloser Leichtigkeit scheint mir etwas verloren gegangen zu sein in den vergangenen, sagen wir vielleicht, zehn Jahren. Mir kommt es so vor, als habe sich die Gesprächskultur sehr gewandelt (vor allem im öffentlichen Raum).

Berühmt und berüchtigt zu sein ist heutzutage jedenfalls nicht wirklich mehr das, was mal als famos galt — vermute ich (ohne eine passende aktuelle Studie im Ärmel zu haben, die einer empirischen Probe standhalten könnte).

Nicht mal wenn man im Internet nach „famos“ in Verbindung mit Werbung sucht, findet man pfiffige Sachen. Je nach Suchmaschine (sagt man das noch?) bekommt man dann Treffer in allen möglichen Sprachen, die mich nur mäßig begeistern. Wahrscheinlich nur mein Problem. Was erwarte ich auch. Oder ich suche falsch. Kann natürlich auch sein.

Ich muss wohl zur Selbsthilfe schreiten. Zum Beispiel im Bioladen meines Vertrauens demnächst überrascht ausrufen: „Die Bio-Bananen sind ja perfekt geformt, nicht zu grün und nicht zu gelb und heute auch noch so günstig – das ist ja famos!“ Dann werde ich mich unauffällig umschauen, sehen was mir zurückgesendet wird und wahrscheinlich nach einem kurzen Räuspern den Laden verlassen.

So richtig Sorgen um das Wort famos muss man sich dennoch nicht machen. Wenn man auf dem wunderbaren Wortschatz-Portal der Uni Leipzig nach „famos“ sucht (wie ich es gerade getan habe), bekommt man noch jede Menge aktuelle Anwendungsbeispiele von sehr unterschiedlichen Websites. Besonders in Bezug auf Sport, genauer gesagt, Fußball, noch genauer gesagt, Bundesliga, scheint „famos“ noch gut unterwegs zu sein. Das lässt sich der zum Eintrag gehörenden Grafik entnehmen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, überrascht das auch nicht: Denn gerade Fußball zeitigt ja nach wie vor eine Menge plötzlicher begeisterter (und wenig begeisterter) Ausrufe. Ich glaube, da fühlt sich „famos“ ganz zuhause.

http://www.wortschatz.uni-leipzig.de

Hausschneiderin

Dieses Konzept hat mich schon immer fasziniert: Hausschneiderin oder auch Hausnäherin. Das sind beziehungsweise waren Schneiderinnen (ja, ich habe nur von Frauen gehört, die einer solchen Tätigkeit nachgehen), die im Hause anderer für den jeweiligen Haushalt und für die dazugehörige Familie nähen. Nein, falsch – nähten (Präteritum) sollte ich sagen. Dazu gehörten Änderungsarbeiten und Reparaturen an Kleidungsstücken genauso wie Vorhänge und was weiß der Kuckuck.

Das heißt, morgens, etwa an einem Mittwoch, klingelte die Hausschneiderin an einem in meiner Vorstellung großen Haus mit Messingklingel, wurde eingelassen, stieg die herrschaftlichen breiten Treppen hinauf und verbrachte den Tag mit Näharbeiten vor Ort, also direkt bei der Klientel – mit allem Drum und Dran. Abends, wenn die Kundenkinder in die eigens für sie angepassten Sachen passten (ob sie darüber begeistert waren, kann ich leider nicht beurteilen), dem alten Nachthemd von Tante Heide ein neues Leben geschenkt worden war und der Vorhang gekonnt mit neuer Raffung am Fenster hing, machte sich die Hausschneiderin wieder auf den Weg.

Dieser Begriff der Hausschneiderin ist nicht mehr in Mode, weil es diesen Anwendungsfall nicht mehr zu geben scheint, zumindest nicht in Deutschland. Geläufig ist mir der Begriff vor allem von Kaffeetafeln mit älteren Damen, die selbst oder deren inzwischen verstorbene Angehörige (Mütter oder Tanten oder deren Freundinnen) als Hausnäherinnen arbeiteten, z.B. zur Zeit des 2. Weltkriegs, um sich und ihre Familie zu ernähren. Bevor es einschlägige Kleidungsgeschäfte oder gar Online-Shops gab, die heute selbstverständlich sind.

Da war nicht nur individueller Modegeschmack gefragt, sondern auch Geschicklichkeit und Einfallsreichtum – zum Beispiel wenn Kleidung komplett umgenäht werden musste, weil es nichts zu kaufen gab. Oder wenn es um Brautkleider oder gar fipselige Aussteuer-Gegenstände für die jüngste Tochter ging. Viel Spaß! Für diesen Job brauchten die Frauen vermutlich auch: gute Nerven, ein offenes Ohr, Menschenkenntnis, fortgeschrittene Multi-Tasking-Skills, Verhandlungsgeschick und Diskretion. Denn das waren zum Teil langfristige Geschäftsbeziehungen mit Familienanschluss, die die Hausschneiderinnen eingingen. Viel verdient haben sie höchstwahrscheinlich nicht. Aber zum Leben scheint es durchaus gereicht zu haben. Ganz zu schweigen von dem Nervenkitzel (Brautkleider mit Änderungen in der letzten Minute!) und dem Unterhaltungswert.

Ein schönes Beispiel für die Erinnerung einer Hausnäherin findet man in einem mittlerweile historischen Eintrag der Schwäbischen Zeitung (von 2009):
https://www.schwaebische.de/landkreis/bodenseekreis/meersburg_artikel,-die-n%C3%A4herin-besticht-durch-ihre-fitness-_arid,3572596.html