Poesiealbum – mein historisches Facebook

„Warum rülpset und furzet Ihr nicht – hat es Euch nicht geschmecket?“
Martin Luther (zugeschrieben)

Dies war der verzweifelte Poesie-Eintrag eines Jungen, der der ständigen Poesieanträge seiner recht zahlreichen Mitschülerinnen endgültig Leid war. Seine Rechnung ging auf: Er wurde nie wieder gefragt.

Heute wäre es wahrscheinlich ein Mausklick auf Facebook. Aber das kann man ja nicht vergleichen.

PoesiealbumWas mir am Poesiealbum gefällt, ist dass es dort nicht um tagesaktuelle Ereignisse und Schnappschüsse aus dem Leben geht, sondern um grundsätzliche Einsichten und Wünsche, die man nicht etwa ungefragt anderen aufdrängt, sondern um die man von jemandem sogar gebeten wird. Wenn man jemandem nur einen Satz oder Spruch sagen kann: Welchen würde man wählen?

Da kann man natürlich – gerade wenn unvorbereitet – mal lose blättern und unverbindlich schauen, wie sich bereits vorhergehende Autoren verewigt haben und einfach etwas „kopieren“ (wie mein entfernter Cousin von unserer gemeinsamen Tante), etwas eigenes erfinden (ziemlich riskant, wenn es dann doch in die Hose geht) – oder eben mit reformatorischer Dramatik unverholene Lebenslust bezeugen entgegen aller rüschchenenhafter sittsamer Zauberhaftigkeit, die sich in solchen Bändchen zu sammeln pflegte.

Herrlich! Und die mit Bleistift vorgezeichneten und hernach wieder mühsam beseitigten Hilfslinien, die einer besonderen Radiertechnik bedurften, um nicht durch ungeschickte Knitter den ganzen Band zu zerstören! Wie herzig sich das anschaut in Zeiten des Internets!

Ach – und die Gruppendynamik des Austauschs! Wer wen in der Klasse als erstes fragte, ins Album zu schreiben, war entscheidendes Kriterium in der Popularitätsliste von Mitschülerinnen. Wie beim Sportunterricht, wo man in Mannschaften gewählt wurde – ein Alptraum besonders für Jungen, wenn ich mich recht erinnere.

Als ich letztens mein eigenes Poesiealbum im herrlichen braunen, hochwertigen Kunstlederpappimitat herauskramte, fiel mir nicht nur auf, dass der prä-nanotechnologische Klebstoff die schwulstigen Papierblumen und dazugehörigen Zwerge völlig verwellt hatte, sondern dass relativ wenige Leute sich bei mir überhaupt im Poesiealbum verewigt hatten – wahrscheinlich wie in 92,7 Prozent aller Poesiealben. Möglicherweise habe ich es damals nicht so genau genommen. Nicht mal alle nächsten Verwandten haben es hineingeschafft. Aus heutiger Sicht sehr interessant sind die Namen, die ich oben rechts in einer bestimmten Reihenfolge in Bleistift eingetragen hatte – deren Seiten aber leer geblieben sind. Und dass man Einträge von Leuten findet, die man gar nicht erwartet hätte. Aber so ist es wahrscheinlich im Leben. Im Nachhein sieht doch vieles recht anders aus.

Am liebsten aber noch mag ich den Spruch, den mir meine Schwester ins Album schrieb – mit der ich mich zoffte, die am liebsten natürlich mit meinen Plüschtieren spielte und die mich regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
Noch heute steht dort ganz unvergleichlich in gezähmter Schulausgangsschrift:

„Richte nie den Wert des Menschen schnell nach einer kurzen Stunde!
Oben sind bewegte Wellen, doch die Perle liegt im Grunde.“

Mal ehrlich – kann das Facebook auch?

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