Geistige Getränke und Retourbillets

Ob Sherlock Holmes, Dracula oder andere Geschichten, deren Handlung in den 1890er Jahren in London spielt: Ein kleiner treuer Reiseführer aus der damaligen Zeit (mit Karte!) kann nie als Begleitliteratur schaden, wenn man in Gedanken an Ort und Stelle „reisen“ möchte. Ich habe einen, der 1896 für eine deutsche Leser- und Besucherschaft verfasst wurde und beispielsweise deutsche Buchhandlungen, Apotheken und sogar Musikalienhandlungen aufführt. So war ein Ableger von Breitkopf & Härtel in der Great Marlborough Street zu finden und einer von Schott & Söhne in der Regent Street. Erstaunlich! Immer wieder ziehe ich das Bändchen zurate, wenn ich mich im viktorianischen London „zurechtfinden“ möchte.

Bereits damals wurden zum Beispiel sieben vegetarische Restaurants aufgeführt, und vielleicht war das auch nur eine Auswahl:

Vegetarianer-Restaurants.

Keine geistigen Getränke, kein Fleisch; Pflanzenkost gut und billig, keine Trinkgelder.

St. Pauls Churchyard 61.
Ludgate Circus 1.
St. Martins Lane W.C. (The Orange Grove).
Tottenham Court Road 185 (The Ideal).
Oxford Street 23 (The Alpha).
Rathbone Place 13, Oxford Str. (The Wheatsheaf).
Strand 303 (Queen Victoria).

London und Umgebung, Achte Auflage. Verlag von Albert Goldschmidt, Berlin, 1896, Seite 39

In den „Vegetarianer-Restaurants“ wurden keine alkoholischen Getränke verkauft. Wobei – was schreibe ich: „Geistige Getränke“ klingt so viel schöner. Ich denke gleich an Rotwein und Sonnette, wobei sich der „geistige“ Aspekt hier freilich nur auf den Alkohol im Getränk bezieht, nicht auf die Wirkung oder den geistig-musischen Ausgangzsustand jener, die solche Getränke zu sich nehmen. In „Spiritus“ (Latein: u.a. Lufthauch, Wind, Seufzer, Dunst, Seele, Geist) ist die Bedeutung heute noch enthalten.

Im „Kluge“ steht zu Spiritus:

„(vergällter) Alkohol, Weingeist“, erw. fach. (15. Jh.). Entlehnt aus l. spiritus „Hauch“, zu l. spirare „blasen, wehen“. In der Sprache der Alchimisten wurde mit diesem Wort die „wesenhafte Flüssigkeit“ von Körpern bezeichnet, die sie durch Destillation gewannen. Dann speziell auf das Wesenhafte von alkoholischen Flüssigkeiten bezogen (–> Spirituosen).

Quelle: Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin, New York, Walter de Gruyter, 2002

Von Berlin aus hätte ich damals über Vissingen, Ostende, Calais oder Hoek-Harwich nach London reisen können, wie ich lese. Eine Hin- und Rückfahrkarte („Retourbillet“) für letztere Route kostete für die 1. Klasse damals 83 Mark und war 30 Tage gültig. Retourbillets! Auch sind die Farben für Omnibus-Linien und Pferdebahnen (Tramways) aufgeführt.

Blick in das Büchlein, das mir vor vielen Jahren eine liebe Englischlehrerin schenkte, weil sie meine Vorliebe für Großbritannien und die englische Sprache kannte.

Wenn ich das nächste Mal nach London reise, möchte ich wieder eine Dampfschiffpartie unternehmen, wie im Reisführer vorgeschlagen. Viele, will heißen wahrscheinlich die meisten der Museen und Ziele gibt es ja auch heute. Man kann sich also inspirieren lassen. Für mich gehört ein Pub-Besuch immer mit dazu. Doch was lese ich dazu in meinem Reiseführer?! What?!

„Die englischen Bierlokale, ‚Public Houses‘ genannt, bieten einen ungemütlichen Aufenthalt mit sehr gemischter Gesellschaft und entsprechen in keiner Weise dem deutschen Geschmack. Dagegen haben die deutschen Bier-Importeure in den letzten Jahren eine grössere Zahl eleganter Restaurants nach deutscher Art eingerichtet, deren Aufzählung folgt:..“

London und Umgebung, Achte Auflage. Verlag von Albert Goldschmidt, Berlin, 1896, Seite 37

Oha. Wenn ich an diese Stelle komme, merke ich, dass es dann doch an der Zeit ist, das Büchlein wieder zu schließen und an seine Stelle ins Regal zu stellen.