Lichtspiel

„Ach, lass uns doch mal wieder ein Lichtspiel besuchen.“ Wie lange hat das keiner zu mir gesagt. Sofort habe ich zuckende Schwarz-Weiß-Bilder eines Stummfilms vor Augen, wahrscheinlich sitzt ein Orchester gleich vor der Bühne, die Menge tobt ob der nach heutigen Standards völlig übertriebenen Gestik der Darsteller bei der Vorführung recht alberner Sketche. Meine Freundin Gerda muss sich Luft zufächern, so lustig ist der Film. Sie trägt ein sehr schickes 20er-Jahre-Kleid. So könnte es sich zugetragen haben, wenn ich vor 100 Jahren gelebt hätte und ein Lichtspieltheater oder Lichtspielhaus besucht hätte und eine Freundin gehabt hätte, die Gerda hieß.

Die Bezeichnung Lichtspiel ist sicher auf die in seiner Entstehungszeit neuartige Form der Vermittlung eines Schauspiels durch die Licht-Projektion bewegter Bilder zurückzuführen. Daher auch die Bezeichnung Lichtspieltheater für den Ort, wo Lichtspiele gezeigt wurden (oder auch Lichtspielhaus). Es war ein Theater, wo die Schauspieler eben nicht leibhaftig auf der Bühne standen, sondern an die Wand projeziert wurden.

Der heutige Begriff Kino ist laut dem etymologischen Kluge-Wörterbuch auf Kin-(emat)-o-graph zurückzuführen. Damit war zunächst ein „Apparat zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder“ gemeint, entlehnt aus dem Französischen cinématographe. Darin enthalten sind das griechische kinema (-atos) für Bewegung sowie -graph von dem Verb graphein, was schreiben bedeutet (vgl. Kluge, 2002). Also ein Bewegungsaufschreiber, jedoch nicht im Sinne heutiger Fitness-Apps. Später wurde der Begriff für die Apparatur gleichbedeutend mit dem Ort, wo diese zum Einsatz kam.

Einige Filmrezensenten verwenden Lichtspiel noch heute vereinzelt als Synonym, wenn sie nicht dauernd Film oder Streifen sagen wollen, was die treu Verbundenen der notleidenden Wörter natürlich erfreuen dürfte.

Für mich klingt Lichtspiel sofort nach guter Laune und einem wohlschmeckenden Cocktail im Anschluss, nicht zum Beipiel nach dem düsteren und sehr dramatischen Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ (ausgesprochen: patjomkin) von Sergej Eisenstein aus dem Jahre 1925, der die Zuschauer dank neuartiger dramaturgischer und schnitttechnischer Kniffe damals in Angst und Schrecken versetzte. Auch nicht nach heutigen Kassenschlagern (man könnte auch Blockbuster sagen) mit allen möglichen Spezialeffekten.

Aber die Lichtspielhäuser bleiben derzeit pestilenzbedingt geschlossen und viele Freunde des dramaturgisch durchdachten Bewegtbilds wenden sich Streamingdiensten zu, derer es inzwischen recht viele gibt. Mmh. Wie könnte man diese nach alter Tradition nennen? Vielleicht Lichtspiellieferanten, Lichtspielversorger — oder, wenn man es wieder französisch haben möchte — Lichtspielabonnementdienste? Vielleicht wäre das doch auch was für mich. Internet hab ich. Gin habe ich auch in mittlerer Bandbreite. Jetzt muss ich nur noch Gerda finden. (Wahrscheinlich dann doch eher nach dem Lockdown. Ach Mensch. Man könnte auch confinement auf französisch sagen, wie beispielsweise die französische Tageszeitung Le Figaro. Klingt irgendwie frischer, ändert aber nicht wirklich etwas.)