Upcycling

Upycling – das klingt so hipp, aber auch wahnsinnig anstrengend. Wie mit einem nicht mehr so neuen Rennrad einen Berg hochzufahren. Muss es aber gar nicht sein. Diese relativ neue Wortschöpfung leitet sich bekanntlich von Recycling ab, also von der Wiederverwertung von Gegenständen bzw. Wertstoffen wie Altglas. Dabei gibt es die pfiffigsten Ideen und ich werde nicht müde mir die einfallsreichsten Neuschöpfungen im Internet oder in entsprechenden Dokumentationen anzuschauen. Also: „Aus alt mach neu“. Dabei ist die Idee, dass das Ergebnis durchaus hochwertiger sein kann als der Ausgangsgegenstand. In Eine-Welt-Läden habe ich schon länger entsprechende Dinge entdeckt, z.B. sehr hübsche und pragmatische Aufbewahrungsdosen, die aus alten Getränkeflaschen gefertigt und mit einem entsprechendem Bezug versehen wurden. Oder auf einer Designer-Website alte Weinflaschen, die zu Weingläsern weiterverarbeitet wurden. Das Potential ist enorm. Und man kann Ressourcen sparen, was ja die eigentliche Idee dabei ist.

Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mir wahrscheinlich eine Werkstatt einrichten und den skurrilsten Dingen in meinem Haushalt zu einem zweiten Leben verhelfen. Das würde mich mit großer Freude erfüllen. Dabei war ich gerade erst so stolz auf mich, nach langem Ringen einige Dinge ausrangiert zu haben, wie die schwere Marmorplatte, die ich mal an einem Strand in Venedig gefunden hatte, die sich hervorragend für einen Café-Tisch geeignet hätte. Mmh, das haben inzwischen wohl andere gemacht. Es sei ihnen gegönnt. Und wahrscheinlich noch teuer verkauft. Vielleicht müsste ich auch wieder mal in meinen Keller gehen, um mir entsprechende Ideen zu holen. Vielleicht bleibe ich aber auch oben und schaue mir lieber noch eine Upcycling-Dokumentation an, die sind wirklich so schön. Oder schwelge in Online-Angeboten von existierenden Upcycling-Läden. Mal schauen, was die so haben…. Wie würde ich denn meinen Laden eigentlich nennen? Upcycling klingt mir irgendwie zu sperrig. Wie wäre es mit: „Der Himmel der ausrangierten Dinge“. Aber auf Japanisch übersetzt. Wenn schon, denn schon!

Sommerfrische

Nun, da sich der Herbst unweigerlich bemerkbar macht mit herrlichem Frühnebel, Laubfärbung, Pilzduft, und die Kastanienbäume ihre harten Früchte nach nichtsahnenden Passanten werfen, überkommt mich doch eine Wehmut, dass ich dieses Jahr nirgendwo in der „Sommerfrische“ war. Will heißen: „Erholungsaufenthalt im Sommer auf dem Land, an der See, im Gebirge etc.“. So beschreibt es der Duden, Universalwörterbuch 1989.

Wenn ich an Sommerfrische denke, entstehen vor meinem inneren Auge sofort Bilder bürgerlicher Großfamilien zur Jahrhundertwende (der vorletzten, wohlgemerkt), die gut gelaunt in unbequemer Mode ein Picknick auf einem großen Rasen zu sich nehmen, wobei die Damen weiße berüschte Schirme über sich halten während die Herren Boule spielen. Sommerfrische halt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Hintergrund ein Grammophon erkennen kann.

Sommerfrische klingt so wohl geordnet, überschaubar. Entschleunigt. Offline. Eine solche bedarf der Vorbereitung. Man verlässt die Stadt für einen Erholungsaufenthalt. Vorher verabschiedet man sich gegebenenfalls bei Bekannten mit einem kurzen Besuch, hinterlässt bei ihrer Abwesenheit seine Visitenkarte versehen mit einem lateinischen (oder französischen) Kürzel in Bleistift geschrieben, das den Anlass des Besuchs erklärt: im Falle der Sommerfrische wahrscheinlich ppc. (pour prendre congé – um Urlaub zu nehmen). Sodann macht man sich auf den Weg, um einen recht exotischen Seins-Zustand einzunehmen: Man wird zum Sommerfrischler. Freiheit!

Erst einmal brauche ich neue Visitenkarten, die kann man ja online bestellen. Dann kaufe ich mir bei eBay ein Grammophon, was ich dann mitschleppen muss. Mit einigen Platten, man muss es ja nicht gleich übertreiben. Wahrscheinlich sogar im RegionalExpress. Naja, macht nichts. Dann muss ich noch meine Freunde einladen mitzukommen, am besten auch jemanden, der einen Hund hat (lebhaft, aber gut erzogen, am besten noch Kinderlieb, falls wir auf den Wanderungen Kindern begegnen) – ich glaube, bei Sommerfrischen ist ein Hund unabdingbar.

Eine Ferienwohnung in den Bergen können wir ja noch buchen, wir müssen nur einen Termin irgendwann nächstes Jahr finden, so um die KW 25, der allen passt. Und dann kann es losgehen!

Paternoster

Ach, waren das herrliche Zeiten, wo es noch in vielen Verwaltungsgebäuden ganz selbstverständlich Paternoster gab! Jene seltsamen Aufzüge mit offenen Kabinen, in die man innerlich gefasst und entschlossen im richtigen Moment eintreten musste, damit man die Plattform der jeweiligen Kabine auch sicher erreichte. Die also einer besonderen inneren Haltung bedurften, um benutzt zu werden. Und beim Aussteigen das gleiche: Wann war der geeignete Moment, hinauszuspringen (nicht zu früh und nicht zu spät?) – besonders wenn andere Leute auf der jeweiligen Etage standen, gewissermaßen als Zeugen und Begutachter der eigenen Ausstiegsfertigkeit, um dann selbst noch rechtzeitig konzentriert (und möglichst reibungslos) einzutreten.

Paternoster

Diese Dinger konnten einem ganz schön Respekt einflößen und waren auf ihre Art auch sehr geheimnisvoll. Das monotone Knarren. Und was passierte ganz oben und unten, wenn sich die Kabinen dem Blick entzogen, um einen verborgenen Prozess zu durchlaufen, dessen Ergebnis es war, die Richtung zu wechseln? Noch heute gruselt es einige Leute, wenn ich von Paternostern schwärme. Die Kabinen würden kopfüber in die andere Richtung wechseln und es sei ja nicht auszudenken, was passierte, wenn man einfach drin bliebe! Selbst wenn man weiß, dass dies natürlich nicht stimmt, scheint der Paternoster aufgrund seiner Eigenheiten unterbewusste Dinge und Ängste anzusprechen: vor dem Werden und Vergehen, vielleicht auch vor dem Warten und dem sich plötzlich Entschließen, vor dem Zögern oder gänzlichem Versagen, dem Beobachtetwerden in potentiellen Stresssituationen und was weiß ich wovon noch.

Auch sind Paternosterbegegnungen anderer Art als Fahrstuhlbegegnungen. Das Einsteigen, Hinzusteigen und Aussteigen bedarf einer noch sensibleren Abstimmung aller Beteiligten. Schließlich hat man keine Ahnung, wie weit der oder die andere fahren möchte und man ist geneigt, auf jedes Zucken zu achten, das ein Anzeichen des Aussteigenwollens verstanden werden könnte. Selbst kurze Gespräche lohnen nicht wirklich oder erscheinen einfach unangebracht. Auch sind Paternosterkabinen eher enger als die meisten Fahrstühle, was einen dann doch dazu verleitet, bei allem Respekt, eine Kabine für sich allein haben zu wollen.

Auch wenn der Paternoster vom Aussterben bedroht ist, hat er noch treue Freunde. So wurde der Paternoster im Rathaus Stuttgart Ende Juli 2015 kurzerhand zum „Partynoster“, als er nach zweimonatiger Zwangspause wieder in Betrieb genommen werden durfte (wie die Stadt Stuttgart und die Stuttgarter Nachrichten damals berichteten).

Und ich hatte vor einiger Zeit völlig unerhofft (allerdings nicht in Stuttgart) die Chance, mir einen lang gehegten Traum zu erfüllen: Ich bin nicht nur Paternoster gefahren – ich bin durchgefahren! Es war herrlich!! Muss ich mir Sorgen machen?

Beitrag auf der Website der Stadt Stuttgart zur Wiederinbetriebnahme des Paternosters

Artikel in den Stuttgarter Nachrichten vom 28. Juli 2015

Man müsste Klavier spielen können….

Wie gerne ginge ich mal wieder zu einem Liederabend – Gesang mit Pianoforte. In einem kleinen Salon mit Wandteppichen, kleinen Statuetten und ausladenden Palmen. Das wäre doch was! „Pianoforte“ klingt so gediegen. Obwohl es sich ja genau genommen um ein Klavier handelt. Bei Klavier ist man aber wahrscheinlich eher geneigt, an Klavierunterrichtsstunden und die dissonanten Übungskadenzen zu denken, die zu einem unfreiwillig aus einer fremden Wohnung ans Ohr dringen. Oder an Möbelumzüge mit Klavieren, die bereits jahrelang verstimmt in einer Ecke standen. Wunderschöne Erbstücke. Oder an Loriots wunderbaren wie peinsamen Sketch, in dem die Familie zum wiederholten Male mit minutiös geprobter Spontani→ weiterlesen

Galanteriewaren in Prag

In der Celetnà-Straße 3/602 in Prag gab es von 1887 bis 1906 ein Galanteriewarengeschäft – ein Geschäft, das sich auf den Verkauf modischer Accessoirs spezialisierte.

Wahrscheinlich wäre es heute längst vergessen, wenn nicht sein Besitzer in die Literaturgeschichte eingegangen wäre: Hermann Kafka, der Vater von Franz Kafka. Bekanntheit dürfte der Geschäftsmann vor allem durch Franz Kafkas „Brief an den Vater“ erlangt haben, den der Schriftsteller 1919 verfasste – aber nie abschickte. Auf 103 Seiten schrieb sich Kafka seinen ganzen Frust von der Seele und portraitierte sehr anschaulich sein Leiden am Vater, der alles andere als liebenswürdig oder galant aus den Beschreibungen hervorgeht. Einige Ausschnitte des Briefs sind im Kafka-Museum in Prag zu sehen.

„Manchmal stelle ich mir die Landkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden, und besonders die Ehe ist nicht darunter.“ (Brief an den Vater)

Noch heute gibt es in Prag alte Schilder mit der Aufschrift „Galanterie“, wobei aber anzunehmen ist, dass sich die Bedeutung später in Richtung Kurzwaren entwickelte.

Wenn es Zeitreisen gäbe, würde ich gern dieses Lädchen besuchen und mich persönlich in Galanteriewarenangelegenheiten beraten lassen. Ich würde heimlich von den Zierknopfleisten und Parfümfläschchen in der Auslage aufschauen um zu sehen, wer dieser Mann ist, der einen der überragendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts auf solch dramatische Weise geprägt hat, vermutlich ohne es im Entferntesten zu ahnen.

Hauseingang des Gebäudes der Hausnummer 3/602
Das Haus des ehemaligen Galanteriewarenladens von Hermann Kafka in der Celetná Nr. 3/602 heute. Die Familie hat laut des Stadtplans „Franz Kafkas Prag“ auch von 1892 bis 1907 hier im zweiten Stock gewohnt.

 

Links zum Thema: 

Kafka-Museum in Prag
Ausstellungsführer zum Museum (nur dort erhältlich) oder
ggf. im Antiquariat: ZVAB
Wikipedia-Eintrag zu Galanteriewaren

Marokkanische Minze an zartem Geschmeidling

Eigentlich ist es eine Frechheit, in Deutschland den Begriff „smoothie“ einzuführen. Die Aussprache! Auch bei besten Englisch-Phonetik-Kenntnissen mag es schwerfallen, sich dieses Wort zum Beispiel in Sachsen, Baden, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg – eigentlich egal in welcher Region – einwandfrei ausgesprochen vorzustellen. Beziehungsweise einfach nur albern. Es führt die nettesten Leute in Verlegenheit. Nette Leute, die einfach nur frisch zubereitete Säfte trinken wollen. Ja, wir reden von Säften. Bei ca. 1.300 Watt Mixerleistung und Geräuschbelästigung der Nachbarschaft zerkleinertes Obst und Gemüse mit zum Beispiel Wildkräutern, Gewürzen und ggf. noch mit Eiswürfeln dazu – in den erstaunlichsten Kombinationen. Fabelhaft. Lecker. Ganz sämig (wer Wert darauf legt, das Wort gefällt mir auch nicht besonders). In der kulinarischen Fachsprache des Convenience(-)Foods: „Smoothie“.

Himbeeren, Pampelmuse, Petersilie und Brokoli im Mixer
Zutaten für einen Smoothie im Mixer

Was haben sich diese Werbeleute nur dabei gedacht. Wahrscheinlich nicht viel. Englisch und hipp muss es klingen und irgendwie lecker aussehen, vermute ich. Oder, und das ist noch viel wahrscheinlicher, einfach nicht übersetzt, sondern einfach übernommen. Die Verbreitung von Produktphänomenen unterliegt ja auch einer gewissen Eigendynamik. Und nun ist es leider auch so, dass wenn ein Begriff einmal Einzug gehalten hat, man sich doch relativ schnell an ihn gewöhnt, und künstliche Versuche, ihn auzutauschen, noch befremdlicher und seltsamer erscheinen als der Begriff selbst. Wie „Geschmeidling“ zum Beispiel. Nein, das kann man nicht sagen. Das ist total albern. Außerdem hat es den Anklang von Würstchen im zarten Saitling. Das geht wirklich nicht.

Mir selbst hat der Weihnachtsmann auf eigenen Wunsch verschiedende Smoothie-Rezeptbücher unter den Weihnachtsbaum gelegt. Da fühlt man sich schon fit, wenn man nur reinschaut. Das Zubereiten braucht zwar eine gewisse Zeit, aber der Genuss hinterher ist die Mühe auf jeden Fall wert. Lecker. Sehr lecker, wenn man die richtigen Zutaten nimmt und nicht in Versuchung gerät, noch den betagten Wirsing nebst Wasabi-Erdnüssen mit unterzumischen, um dem ganzen noch einen exotischen Pfiff zu geben (letztere sind ja für sich alleine sehr köstlich).

Mmh. Ich glaube, heute mache ich mir keinen mehr. Die Nachbarn sind schon im Bett. Ich glaube, ich lasse den Abend mal ausklingen mit einem Weißwein und Sade – Smooth Operator. Nein, ich weiß, das ist kein Smoothie-Mixgerät. Aber vielleicht kommt das ja noch.

Kleos Kulturbeutel

Der Kulturbeutel hat schon einen schweren Stand dieser Tage. Man bekennt sich nicht mehr so gern zu ihm. Wenn man „Kulturbeutel“ in eine Suchmaschine eingibt, bekommt man zwar die richtigen Ergebnisse, wenn es ums Shopping geht, aber das Wort wird nur selten in Online-Shops (man könnte auch Internet-Läden sagen) angezeigt. Meist heißt es „Kulturtasche“ oder ganz unverholen „Waschtasche“ oder etwas euphemistisch fremdsprachiger „Necessaire“, wobei die Aussprache des letzteren manchen Leuten auch Probleme bereitet. Ganz schlimme Steigerungsform für einen Kulturbeutel mit erweitertem Funktionsumfang: Beautycase.

Pinkes Wolltäschchen mit Schlaufenmuster, darin eine Tube, eine Zahncreme, Parfum sowie ein Taschenbuchausgabe mit Anton Tschechovs "der Kirschgarten".
Kein Zweifel, bei diesem Täschchen muss es sich um ein Kulturgefäß handeln.

Kultur und Beutel scheinen nicht so ganz zusammen zu passen. Denn „Kultur“ klingt nach etwas Vornehmem, „Beutel“ aber eher nicht. Wenn man Kultur schon in einem Beutel mitführen muss, um welche zu haben, dann ist es schon schwer um einen bestellt, möchte man meinen. Aber immerhin. Die Körperpflege scheint ein entscheidendes Indiz für Kultiviertheit zu sein – nicht etwa die allgemeinen Umgangsformen, Bildung oder Sprachgebrauch. Nein, es ist das Stück Seife und die Zahnpasta, die den Unterschied machen. Gut – kann man verstehen, wenn man im Sommer bei 35 Grad mit anderen Leuten in einem vollen Bus fährt.

Mir gefällt „Kulturbeutel“ so, genau weil dieser Begriff auf ulkige Weise nahelegt, man könne Kultur mit sich in einem Beutel mitführen oder es gäbe ein spezielles Behältnis, in dem Kultur idealerweise transportiert werden könne und sollte – aufgrund ihrer Beschaffenheit und Konsistenz zum Beispiel. Als könne man Kultur mit Händen greifen und irgendwo reinpacken wie Haarspray, Shampoo oder Rasierschaum.

Ein früherer Kommilitone erzählte mir einmal, er habe einmal ein Praktikum in einer Molkerei gemacht, wo er im plattesten Sächsisch aufgefordert wurde, „nen Eimer Guldur“ zu holen. Er schaute sich etwas ratlos um, sah auf den ersten Blick keine, und schlussfolgerte dann stichfest, es müsse sich wohl um Milchkultur handeln.

Der Begriff der Kultur ist also dehnbar und verhandelbar – über 200 Definitionen von Kultur solle es geben, hörte ich einmal in einer Vorlesung der Kulturwissenschaften. Daher ist es gar nicht so klar, was Kultur eigentlich ist – und daher ist Kultur hervorragend als Euphemismus geeignet, zum Beispiel für Dinge, über die man halt nicht so gerne redet, weil sie sich eben doch – na ja – halt auf persönliche Dinge beziehen, wie eben Shampoo und so. Auf die Zeit im Bad, die man alleine verbringt, wohin der Kaiser bekanntlich ja auch zu Fuß geht. Kultur halt.

Ob Kleopatra auch einen Kulturbeutel hatte? Ich meine, sie war schließlich führendes Mitglied einer Hochkultur und soll den BH erfunden haben, sagte man mir stolz bei einer Führung im ägyptischen Museum in Kairo. Ich befürchte aber, sie hatte ein Beautycase – wie auch immer man das in Hieroglyphen schreibt. Pyramiden davon.

Poesiealbum – mein historisches Facebook

„Warum rülpset und furzet Ihr nicht – hat es Euch nicht geschmecket?“
Martin Luther (zugeschrieben)

Dies war der verzweifelte Poesie-Eintrag eines Jungen, der der ständigen Poesieanträge seiner recht zahlreichen Mitschülerinnen endgültig Leid war. Seine Rechnung ging auf: Er wurde nie wieder gefragt.

Heute wäre es wahrscheinlich ein Mausklick auf Facebook. Aber das kann man ja nicht vergleichen.

PoesiealbumWas mir am Poesiealbum gefällt, ist dass es dort nicht um tagesaktuelle Ereignisse und Schnappschüsse aus dem Leben geht, sondern um grundsätzliche Einsichten und Wünsche, die man nicht etwa ungefragt anderen aufdrängt, sondern um die man von jemandem sogar gebeten wird. Wenn man jemandem nur einen Satz oder Spruch sagen kann: Welchen würde man wählen?

Da kann man natürlich – gerade wenn unvorbereitet – mal lose blättern und unverbindlich schauen, wie sich bereits vorhergehende Autoren verewigt haben und einfach etwas „kopieren“ (wie mein entfernter Cousin von unserer gemeinsamen Tante), etwas eigenes erfinden (ziemlich riskant, wenn es dann doch in die Hose geht) – oder eben mit reformatorischer Dramatik unverholene Lebenslust bezeugen entgegen aller rüschchenenhafter sittsamer Zauberhaftigkeit, die sich in solchen Bändchen zu sammeln pflegte.

Herrlich! Und die mit Bleistift vorgezeichneten und hernach wieder mühsam beseitigten Hilfslinien, die einer besonderen Radiertechnik bedurften, um nicht durch ungeschickte Knitter den ganzen Band zu zerstören! Wie herzig sich das anschaut in Zeiten des Internets!

Ach – und die Gruppendynamik des Austauschs! Wer wen in der Klasse als erstes fragte, ins Album zu schreiben, war entscheidendes Kriterium in der Popularitätsliste von Mitschülerinnen. Wie beim Sportunterricht, wo man in Mannschaften gewählt wurde – ein Alptraum besonders für Jungen, wenn ich mich recht erinnere.

Als ich letztens mein eigenes Poesiealbum im herrlichen braunen, hochwertigen Kunstlederpappimitat herauskramte, fiel mir nicht nur auf, dass der prä-nanotechnologische Klebstoff die schwulstigen Papierblumen und dazugehörigen Zwerge völlig verwellt hatte, sondern dass relativ wenige Leute sich bei mir überhaupt im Poesiealbum verewigt hatten – wahrscheinlich wie in 92,7 Prozent aller Poesiealben. Möglicherweise habe ich es damals nicht so genau genommen. Nicht mal alle nächsten Verwandten haben es hineingeschafft. Aus heutiger Sicht sehr interessant sind die Namen, die ich oben rechts in einer bestimmten Reihenfolge in Bleistift eingetragen hatte – deren Seiten aber leer geblieben sind. Und dass man Einträge von Leuten findet, die man gar nicht erwartet hätte. Aber so ist es wahrscheinlich im Leben. Im Nachhein sieht doch vieles recht anders aus.

Am liebsten aber noch mag ich den Spruch, den mir meine Schwester ins Album schrieb – mit der ich mich zoffte, die am liebsten natürlich mit meinen Plüschtieren spielte und die mich regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
Noch heute steht dort ganz unvergleichlich in gezähmter Schulausgangsschrift:

„Richte nie den Wert des Menschen schnell nach einer kurzen Stunde!
Oben sind bewegte Wellen, doch die Perle liegt im Grunde.“

Mal ehrlich – kann das Facebook auch?

Fernsehgerät

Das gute alte Fernsehgerät – dies schöne Möbel, mit leicht gewölbtem Bildschirm, einer Röhre, die manchmal so schön knisterte, wenn man liebevoll mit der bloßen Hand oder einem Staub-Tuch darüber strich (was so selten vorkam, dass ich es mir gemerkt habe).

Flachbildschirme haben bei Weitem nicht die formidable Materialität eines Fernsehapparats, sagen wir mal aus den 80er oder noch 90er Jahren. Wie schwer diese Dinger waren! Steigerungsform: Farbfernseher. Für Ostdeutsche: der Westfernseher. Damit ist nicht etwa ein Fernsehgerät gemeint, auf dem Westprogramme liefen, sondern Fernsehgeräte, die man von der Westverwandschaft bekam. Auch sehr beliebt: Kofferfernseher, etwa für den Urlaub.

Man konnte auch „Fernsehen“ sagen und das Gerät meinen. Was mir an „Fernsehgerät“ oder „Fernsehapparat“ gefällt, ist, wie der Name schon sagt, die zugrunde liegende Annahme, dass es sich um ein „Gerät“ bzw. um eine „Apparatur“ handelte, eine Art Maschine im Wohnzimmer, die einer gesonderten Aufmerksamkeit bedurfte, gewissermaßen eine Unterhaltungs- und Informationsapparatur, die keine beiläufige Behandlung duldete.

Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als eine Moderatorin durch das komplette Abendprogramm führte, an dessen Ende sich Gekriesel oder das Testbild (!) anschloss, mit einer Ton-Frequenz, die irgendwann jeden Eingeschlummerten wieder zu sich kommen ließ (heute gibt es Nostalgie-T-Shirts davon, vielleicht sollte ich aber auch Niki-Hemd sagen). Tja, Pech gehabt! Das waren die Zeiten, bevor Filme und Dokumentationen jederzeit über Internet-Hochgeschwindigkeitsleitungen in Mediatheken von Sendern verfügbar waren, als man noch auf Wiederholungen hoffen musste.

Etwas schnelllebiger wurde das Ganze schon, als Fernbedienungen eingeführt wurden und man durch das Programm „zappen“ konnte, ohne immer aufstehen zu müssen oder den großen Zeh treffsicher ausstrecken und zielgenau betätigen zu müssen. Und dann: die Einführung des Privatfernsehens Mitte der 1980er Jahre! Einige verzweifelte Ostdeutsche griffen zu diesem Zeitpunkt zur Selbsthilfe und hingen nach Sonnenuntergang selbst gebastelte Westantennen aus dem Fenster, erzählte mir erst kürzlich ein ehemaliger Nachbar. In unserem eigenen Hause (Neubaublock in Leipzig) hingegen waren wir schon lange dank der hochkarätigen Antennenbau-Aktivitäten meines Vaters (Nicht-SED-Mitglied) dermaßen hervorragend mit Westkanälen ausgestattet, dass sich sogar eingefleischte Genossen schon bei uns ganz selbstverständlich beschwerten, wenn mal die ARD während der Übertragung der Fußball-WM gestört war. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er keinen Ärger bekam: Alle wollten Westfernsehen schauen.

Jetzt versucht mein Vater mich seit einigen Jahren zu überreden, einen Flachbildschirm mit allen möglichen Finessen zu kaufen, die nur er zu verstehen scheint. Aber ich sage: nein! Ich hänge an meiner Röhre. Ich meine, ich habe ja nichts gegen Fortschritt – im Gegenteil. Vielleicht kaufe ich mir demnächst eine DVD mit Testbild in Endlosschleife. Gibt es bestimmt!

Essenskübel: Charme der DDR-Kantine

Auf eBay gibt es wunderbare Dinge, die nur jene Leute finden, die die entprechenden Begriffe eingeben. Logisch eigentlich. Essenskübel zum Beispiel. Dieses Wort ist vermutlich vom Aussterben bedroht, da es die typische DDR-Kantine nicht mehr gibt, in der der Essenskübel beheimatet war, aus dem mehr oder minder mürrisch Soljanka, Gulasch oder andere Köstlichkeiten der Ost-Cuisine gegen Papiermärkchen ausgegegen wurden. Leidenschaftslos.

Was mir an Essenskübel so gefällt, ist, das dieser in der DDR durchaus geläufige Begriff frei ist von jedweder marktwirtschaftlich geprägten Illusion. Keine marketingorientierte Verschönerung des Begriffs (man hätte ja auch Essensthermobehälter sagen können). Kein Bewusstsein von Kundenfreundlichkeit, die es ohnehin nicht gab (weil es keine Kunden im eigentlichen Sinne gab) oder der Andeutung einer Appetitlichkeit der im Kübel befindlichen Speisen. Der Kübelinhalt diente der Stärkung der Arbeiterklasse, Alternativen gab es nicht wirklich.

Mir – in der DDR aufgewachsen – schmeckte das Schulessen eigentlich ganz gut. Einmal schockierte ich den Westbesuch, als ich auf die Frage, ob mir das (von meiner lieben Mutter) zubereitete Essen schmecke, antwortete: „Schmeckt wie in der Schule!“ Ich wusste gar nicht, warum die Leute so betroffen drein schauten, als hätte ich meine Mutter bloßgestellt. Es war ein Kompliment!

Irgendwann werde ich mir einen Essenskübel kaufen, solange es sie noch gibt. Sie sind ein Relikt aus einer Zeit und einer Region, in der die Menschen noch intuitiv und aus (schmerzlicher!) täglicher Erfahrung wussten, dass man mit (Alu-)Geld nicht wirklich alles kaufen kann. Zurück wollte ich trotzdem nicht.